Scratching - Kratzen

SCRATCHING – KRATZEN

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Tiefdruck S-Bahn-Scheibe

Video Live Performance


SCRATCHING – KRATZEN

Ein Ausstellungsprojekt von Martin Zawadzki
in Zusammenarbeit mit Ursula Scherrer und Moritz Fehr

Die Installation SCRATCHING – KRATZEN bei AFTER THE BUTCHER (Berlin) war auf zwei Räume verteilt. Im Eingangsraum hingen 15 Tiefdrucke von ausgemusterten Berliner S-Bahnscheiben, gedruckt in Originalgröße auf Büttenpapier. Der anschließende Raum war bis zur Decke mit einem Kunstleder ausgekleidet, das früher als Sitzbankbezug in der S-Bahn diente. Dieses Leder ist mit einem sogenannten „Anti-Graffiti“-Muster bedruckt, der ersten Reaktion der Bahnbetriebe auf das Bekritzeln, das „Taggen“ der Bänke. In diesem Raum wurde zudem über einen Monitor das Zerkratzen einer S-Bahn Scheibe wiedergegeben, das während einer Liveperformance aufgenommen wurde, die an mehreren Tagen stattfand.
Für die Performance war eine noch unzerkratzte S-Bahnscheibe mit schwarzem Lack lichtdicht besprüht worden. Unterhalb der Scheibe wurde eine Kamera installiert, die den Vorgang des Kratzens über angeschlossene Videoprojektoren und einen zwischengeschalteten Mischer direkt an die Decke und auf die Wände übertrug. Das Kratzen wurde durch die Lichtspuren sichtbar, die das Zerstören der schwarzen Oberfläche der Scheibe hinterließ. Bei der Projektion an Decke und Wände überlagerten sich diese Live-Scratchings mit den gedruckten Scatchings auf den ungerahmt an der Wand hängenden Papieren.
Der Ton wurde dabei direkt von der Scheibe abgenommen und über spezielle Kontaktlautsprecher moduliert in den Raum übertragen, ein Prinzip das auch bei der späteren Monitorpräsentation der Performance beibehalten wurde.

Hintergrund
Ich stieß zum ersten Mal bewusst auf das Phänomen der zerkratzten S-Bahnscheiben während der Dreharbeiten zu dem Dokumentarfilm „Der Vierte Sektor“. In dem Film geht es um die Umschulung von Arbeitslosen zu Detektiven und Personenschützern. Ich plante mit Uwe, einem meiner Protagonisten, ein Interview. Wir entschieden uns für die S-Bahn, die damals mit Holzdekor, Kunstledersitzen im Anti-Graffitti-Dekor und Scheiben ausgestattet war, die sich noch zerkratzen ließen. Uwe spricht in diesem Interview über seine Sicht auf die Welt und sehr existenzielle Erfahrungen aus seinem Leben, das zum Teil auf der Strasse stattgefunden hat und von Gewalterfahrungen geprägt war. Das Umfeld in der S-Bahn und die Atmosphäre in den Waggons schienen das Lebensgefühl von Uwe widerzuspiegeln.
Seitdem wurde einiges unternommen, um diese Atmosphäre zu verändern und das Zerkratzen der Scheiben zu unterdrücken. Durch Videoüberwachung und Spezialfolien zur Beschichtung der Glasscheiben wird diese Art des Ausdrucks weitgehend verhindert.
Die Installation SCRATCHING – KRATZEN beschäftigt sich also mit einem mittlerweile beinahe „historisch“ zu nennenden Phänomen. Die Hoch-Zeit des Zerkratzens von Scheiben in U- und S-Bahnen Berlins war Mitte der 1990er Jahre. Im Frühjahr 2013 bekam ich eine letzte Charge zerkratzter S-Bahn Scheiben zur Verfügung gestellt. Mich interessierte bei der drucktechnischen Reproduktion die quasi archäologische Arbeit, das Festhalten und Sichtbarmachen auf Papier, und der Erhalt dieser anonymen Zeichen über einen langen Zeitraum. Durch die Anwendung einer kulturell konnotierten Technik, wie die des Kaltnadeldrucks auf die als wertlos angesehenen Scheiben, wird Wert gebildet bzw. zugeschrieben.
Das „Kratzen“ oder „Scratching“ hat nie im gleichen Maß Einlass in die Welt der Kunst gefunden wie etwa Graffiti, oder die Streetart-Szene.

Die Ausstellung der Drucke steht im Kontext zu einer Video- und Audio- Liveperformance, die sich dem Handeln, dem Kratzen in seiner Ausdrucksform annähert. Es ist ein Teil der Auseinandersetzung innerhalb dieser dokumentarischen Arbeit, die sich auch mit weiteren Versatzstücken beschäftigt, wie dem ersten Kunstleder, mit dem die S-Bahn Sitze gepolstert waren, das die Graffiti verhindern sollte, in dem es den Raum durch eigene genormte und sich wiederholende, industriell hergestellte Krakelmuster besetzte.
Das Ausstellungsprojekt entstand in einem künstlerischen Dialog mit Ursula Scherrer (Video) und Moritz Fehr (Audio). Dieser Dialog öffnete sich zu den Ausstellungsbesuchern und führte zu einem angeregten Austausch.

Ursula Scherrer arbeitet als Künstlerin in New York und organisiert dort u.a. die Veranstaltungsreihe „Optosonic Tea“.
www.ursulascherrer.com

Moritz Fehr arbeitet als Künstler in Berlin im Bereich Klangkunst und Experimentalfilm.
www.moritzfehr.de

Martin Zawadzki


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