Die Briefe des Joe Colburn Politisches Bewusstsein in Deutschland nach 1945

Von Martin Zawadzki


Max Horkheimer auf der Gangway eines Flugzeuges,
Horkheimer-Pollock-Archiv, Foto: Pan Am

Die Nationalsozialisten hatten das Frankfurter Institut für Sozialforschung ins Exil gezwungen. Jetzt, nach Ende des Krieges, luden Stadt und Land Hessen unterstützt von der amerikanischen Besatzungsmacht die überlebenden Mitarbeiter ein, aus ihrem Exil zurückzukehren. Es gelang tatsächlich den früheren Leiter des Instituts, Max Horkheimer sowie seine Mitarbeiter Theodor W. Adorno und Friedrich Pollock zur Neugründung ihres Instituts zu bewegen. Allerdings stellte sich die Frage, wohin sie zurückkehren würden nach den katastrophalen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, den immer neuen Erkenntnissen über das Ausmaß der Vernichtungsstrategien gegen die europäischen Juden, Zigeuner, Homosexuelle und andere. Wie sah das politische Denken der Deutschen nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur aus? Hatte es einen Bruch im Denken gegeben? Wie würden die Deutschen auf die Rückkehrer reagieren? Könnten sie wieder einen Platz in der Mitte der Gesellschaft einnehmen?
Aus diesen eher persönlichen Fragen der Remigranten, entwickelte sich ihr erstes größeres Forschungsprojekt, nachdem das Institut 1950 neu gegründet war. Im folgenden Winter wurde in Deutschland mit über 100 Gruppen – von Straßenbahnschaffnern über Bergbauern, Schutzpolizisten und Ordensschwestern – Diskussionen geführt, die Auskunft über das politische Bewusstsein der Bevölkerung im Nachkriegs-West-Deutschland geben sollten.
»Gruppenexperiment« nannte sich das neue Verfahren der Feldforschung, das sie aus denUSA mitbrachten.
Um es in Gang zu setzen wurde der Brief eines Sergeanten verlesen, der lange bei der Besatzungsarmee gewesen war und danach in deutschen Fabriken gearbeitet hatte, wie der Gesprächsleiter erklärte. In seine Heimat zurückgekehrt, habe er seinen Landsleuten zu schildern versucht, wie es in dem besiegten Land aussähe. »Von oberflächlichen Beobachtern wird viel Unsinn über Deutschland geredet und geschrieben. Die einen meinen, alle seien Nazis und alle hätten mit Schuld; die anderen sehen die Dinge rosig, weil sie natürlich als Sieger in bevorzugter Stellung sind und nach ihren eigenen angenehmen Erfahrungen zu schnell verallgemeinern«, schrieb der Sergeant namens Joe Colburn.
2009 kehrte er zurück nach Deutschland und berichtete erneut seinen Landsleuten: »Mit dem Alter« verändert sich der Blick.
Colburns Beobachtungen sind natürlich real, auch wenn er selbst und seine Briefe erfunden sind für das soziologische Verfahren Gruppenexperiment. Auf die Briefe kam es dabei auch weniger an, als auf die sich daraus ergebenden Diskussionen.
Die schriftlichen Protokolle der Gespräche von 1950/51 sind im Wortlaut erhalten geblieben und ihre Durchsicht ergibt ein teilweise erschreckendes, manchmal aber auch merkwürdiges bis amüsantes Bild über das Denken von Deutschen fünf Jahre nach dem Ende von Diktatur und Krieg.
Aus den alten Protokollen wird zitiert und das Experiment mit dem neuen Brief 2009 wiederholt: »Wie lange können sich vorherrschende Mentalitäten innerhalb ganzer Nationen erhalten?«, fragt Sergeant Coburn heute. Sein Brief wird älteren Frauen in einem Haus des katholischen Frauenbunds, arbeitslosen Umschülern und Studenten der Fachhochschule für Verwaltung und Recht vorgelegt. Und wie vor beinahe 60 Jahren löst er wieder lebhafte Diskussionen aus. Die gleichen Fragen scheinen über mehrere Generationen hinweg ungelöst zu sein.

Sendetermin 25.08.2008, 12.05 Uhr WDR 3

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